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Rätsel Mensch 2013

Katalogtext zur aktuellen Arbeitsweise Andreas Noßmann´s bezüglich der Gemeinschaftsausstellung „Rätsel Mensch 2013“
von Ekkehard Drefke († 2015)

Die acht Arbeiten von Andreas Noßmann hier im Katalog stammen aus drei Themen-Bereichen: Die „7 Todsünden“, Anregungen von „Goyas Caprichos“ und freie Grafik.

Das Jahrhundertbild (1812 Europa …) hier ist eine typische Grafik aus der jüngsten Zeit, in der er immer monumentalere Kompositionen gestaltet, die sich nicht nur von den Proportionen her quantitativ herausheben aus seinem großen Oeuvre von aktuell 4865 Arbeiten. Es sind die Kompositionen, in denen die Figuren immer wieder zu sehr prägnanten und variationsreichen Konstellationen verbunden sind. Dadurch entstehen in dem uferlosen Meer von Figurationen, die sein Werk kennzeichnen, markante und einprägsame Motive, die meist durch bestimmte Figuren oder Figur-Gruppen gekennzeichnet sind wie hier mit dem Zitat aus Delacroix‘ Freiheit von 1830. Man kann sich bei entsprechenden Vereinfachungen eine malerische Vergrößerung auf monumentalen Leinwänden vorstellen, was besonders für die hier ausgewählten Arbeiten aus den zwei Zyklen gilt.

Schon die konkrete enge Auseinandersetzung mit 80 Caprichos, die er in einem zweiten Anlauf (seit den ersten Arbeiten 1989/90 dazu)  begonnen hat, verdeutlichen einen künstlerischen Anspruch, den er mit großer Ausdauer, akribischer  Erforschung der Goya-Arbeiten und einem Allgemeingültigkeits-Anspruch – auch in den „7 Todsünden“ – erstellt, der seinesgleichen in der heutigen Themenlandschaft künstlerischer Motive sucht. Es handelt sich dabei keineswegs um Paraphrasen, geringfügige Modifikationen des Vorlage-Repertoires, sondern um Neuerfindungen aus dem Erleben unserer heutigen Zeit heraus. Dies Erleben meint weder Kostümierungen noch wiedergegebene vertraute Orte noch Zitat-Elemente aus unserem heutigen Alltagsleben. Am Hexenzank kann  man das auch gut im Vergleich zu Goyas 62. Version nachvollziehen. Während dort zwei Körperklumpen von Hexenweibern vor düsterem Hintergrund ineinander verknäult sind und einem Löwenrachen im Abgrund unter beiden lauert, eine groteske-grausige Szene, erlebt man Noßmanns Komposition geradezu als klassisch veredelte „Körper-Schau“, gleichsam visionär. Seine weiblichen und alle Aktfiguren erinnern wie hier an Renaissance-Grafiken von Leonardo, Michelangelo und Zeitgenossen, in Wahrheit aber ist es das zeitgenössische  Körperideal unserer Fitness- und Showbusiness-Welt, allerdings in sehr versachlichter Form. Die Farbigkeit, wenn auch verhältnismäßig untergeordnet, verlebendigt die Szenerie und macht sie einfach freundlicher zum Anschauen. Das Wogen der wellen- und wolkenförmigen Haarfantasien hätte ein William Blake oder einer der Nazarener – hier in mancher Hinsicht wachgerufen – niemals in dieser Eleganz und auch nicht in dieser Artistik erfinden können. Das ist zeitgenössische Optik. Das Gleichnishafte vom Versinken im Abgrund von kirchlicher und weltlicher Macht vor dem Szenario eines Publikums – fast wie beim Jüngsten-Gericht – ist eine Steigerung des Zweikampfs von unvermutet verfeindeten Figuren, wie sie in diesem Zusammenspiel und in dieser Metaphorik von Individualität und Gesellschaft so wütig nur in unserer heutigen demokratisierten Welt ausgetragen wird. Eine ähnliche Verwandlung / Transformation und Heraus-Gehobenheit aus den Inquisitionszeiten und biografisch bekannten Qual-Erlebnissen Goyas zeigt die Grafik „Auferstehung“.

Eine Steigerung dieser Aspekte vor allem in inhaltlicher Verdichtung stellen die Arbeiten zu den 7 Todsünden dar. Hat man einmal die Figur der Ignoranz und den Hassausbruch, angelehnt an eine Szene aus dem Vietnamkrieg in „Ira-Hass oder eine Art Hamburger Hill“, aufmerksam angeschaut, gehen einem diese fast imago-artigen Prägungen nicht mehr aus dem Kopf. Das betrifft zunächst nur die emotionale Wucht. Gleichzeitig wird einem aber bewusst, was es an Treffsicherheit in der Erfindung solcher menschlichen Züge bedarf, um z.B. Ignoranz oder Hochmut überhaupt so darstellen zu können, dass sie sich von verwandten Eigenschaften wie Eitelkeit oder Verdrießlichkeit wahrnehmbar und einprägsam unterscheiden. Denn Noßmann hat zu allen sieben Todsünden jeweils 7 Ausprägungen aufs Korn genommen, zum lat. Oberbegriff Acedia z.B. die Sündenfälle von Trägheit, Faulheit, Feigheit, Ignoranz, Verdrießlichkeit, Trübsinn und Melancholie. Hierzu kann ich nur empfehlen, die entsprechenden Seiten im Internet, in dem Noßmann in einer unfassbaren Breite präzise einzuordnen und zu erleben ist, aufzurufen, um sich von diesem Aspekt anschaulich zu überzeugen.

Denn hier ist nicht der Ort, mehr als nur einen Ausschnitt von der Meisterschaft Noßmanns zu behandeln, z.B. wieso diese so realistisch, drastisch ausformulierten Darstellungen noch gleichzeitig „rätselhaft“ sein sollen. Die Verallgemeinerung seiner Figuren und die Komplexität vieler Themen geraten durchaus trotz der genauen Figurdarstellungen immer wieder in diese Zone. Vor allem aber ist es die komplexe Vielgestaltigkeit der menschlichen Natur, die in ihren letztlich unfassbaren Qualitäten zum Rätseln einlädt: Es ist ja schon verbaliter ein diskussionswürdiges Thema, worin eigentlich Arroganz gegenüber Hochmut besteht und was Zeitgenossen immer wieder in den Zusammenhang all dieser Eigenschaften bringt, ob man ihnen in der Zuschreibung gerecht wird und wie man mit diesem komplizierten „Psycho-System“ von 49 Qualitäten der 7 Todsünden zurechtkommt. Obwohl wir ja aus den Medien manches gute Beispiel kennen (wie es übrigens auch Noßmann in seinen Internet-Kommentaren vor Augen führt), ist es die Frage, wie man dann mit Schwächen und anderen weniger auffälligen Defiziten des Menschen umgeht. Hier in Noßmanns kasuistisch aufgearbeitetem Arsenal erhält man wahrhaftig mindestens so viele Anregungen wie in der Lektüre von umfangreichen verbalen Darstellungen der menschlichen Seele. Und das alles „formuliert“ er eben als Zeitzeuge!

Ekkehard Drefke, 1.5.2013 († 2015)