Zeichnungen von Andreas Noßmann
Stuttgarter Zeitung, 14.01.1995
Ein Narr verwehrt einem männlichen Halbakt den Blick in den Spiegel, indem er ihm ein Tuch über den Kopf zieht: Die Szene ist symbolisch für das Bestreben des Zeichners Andreas Noßmann, Narzißmus und Egozentrik in surreale Szenarien aufzulösen. Aus dem Spiegel, den Noßmann uns mit seinen Blättern vorhält, quillt dem Betrachter eine barocke Fülle von Clowns, Zauberern, Hofschranzen, Nachtmaren entgegen – ein Sammelsurium personifizierter menschlicher Eitelkeiten.
Noßmanns hyperrealistische Zeichnungen, Radierungen und Aquatinta-Ätzungen strotzen vor Detailfreudigkeit. Den surrealistischen Effekt erzielt dabei weniger die einzelne Figur als das Arrangement: Ein Schwein fällt über eine ans Bett gefesselte Frau her, aus dem weggeschleuderten Schulbuch wird unversehens ein roter Doppeldecker und ein kopiertes Selbstporträt mutiert zum Gulliver, der von winzigen Tuschefiguren attackiert wird. Oft sind Bildpartien unterschiedlich stark ausgearbeitet: Farbig-genau der dressierte Mann und die Huren, flüchtig-skizzenhaft zwei Clowngestalten im Hintergrund, die die Begegnung ironisch brechen.
Überhaupt schiebt Noßmann dem sinnlichen Schwelgen in erotischen Szenen gern einen Riegel vor, etwa in der Serie seiner „Überzeichnungen“: Die Salonästhetik des 19. Jahrhunderts wird im Wortsinn überzeichnet, indem der Künstler graphische Blätter aus dieser Zeit gleichsam durch eigenes Personal ergänzt. So wird die ursprüngliche Aussage des Bildes – etwa eine süßliche Liebesszene auf dem Kanapee – von Noßmann-Figuren ins Gegenteil verkehrt: Vier Tattergreise in despektierlichen Posen lutschen am Daumen, strecken die Zunge heraus oder beißen ins Sofa. Ästhetische Innovationen durch Demontage und Neukonstruktion historischer Vorlagen sind ein Liblingstrick von Andreas Noßmann: Anleihen bei Paganini, E.T.A. Hoffmann, Caspar David Friedrich gerinnen samt dem Phantom der Oper zu einem bizarren Kosmos, den – keineswegs abwertend – ein Begriff des Künstlers selbst am besten charakterisiert: „Sammelsurium“ überschrieb Noßmann einen im vergangenen Jahr erschienenen Katalog mit Zeichnungen, Radierungen und Plakaten.
(Bis 3. Februar in der Städtischen Galerie in Filderstadt-Bernhausen.)
— oha 09.01.95
Teufel und Fratzen stören romantische Idylle
Der Zeichner Andreas Noßmann: Ein echter Handwerker
FILDERSTADT. Heutzutage junger Künstler sein und sich von der eigenen Arbeit ernähren können? Was wie ein modernes Märchen klingt ist Realität in der Person des 32jährigen Andreas Noßmann, Zeichner und Buchillustrator aus Nordrhein-Westfalen.
Bereits zum zweiten Mal stellt er Zeichnungen und Radierungen in der Städtischen Galerie der Stadt Filderstadt aus. Axel Zimmermann, Zeichner und Lehrer aus Filderstadt, eröffnete am Sonntag die Ausstellung. Dabei würdigte er das hohe Niveau der Städtischen Galerie, auf dem sich auch Andreas Noßmanns Werk bewege. „Er kann zeichnen, und das ist heutzutage kein selbstverständliches Statement mehr“, lobte Axel Zimmermann die handwerklichen Fähigkeiten seines Künstlerkollegen.
Andreas Noßmann, der an der Wuppertaler Hochschule für Gestaltung Kommunikationsdesign studiert hat, wolle mit dem Betrachter kommunizieren. In seinen realistischen Zeichnungen spreche er Themen an, belasse es aber nicht dabei, sondern fordere zum Denken auf. Seinen Stil prägte die klassische Ausbildung, die Andreas Noßmann in Wuppertal genossen hat. Die lockere und leichte Art zu zeichnen, so Axel Zimmermann, sei jedoch weder willkürlich noch flüchtig, sie rege zur Reaktion an und sei aussagekräftig.
Thematisch hat sich der Zeichner, der eigentlich Maler werden wollte, auf Motive eingeschworen, die mit Kunst zusammenhängen. So sind in der gegenwärtigen Ausstellung Werke aus den Serien „Zirkus und so weiter“, „Jazz-Variationen“ und „Über-Zeichnungen“ zu sehen. Letztere geben der Ausstellung auch den Namen. Hierbei handelt es sich um tatsächlich überzeichnete Bilder aus einem Buch über Gegenwartskunst des 19. Jahrhunderts. Idylle und Kitsch der Vergangenheit kommentiert Andreas Noßmann mit Witz und Ironie. Beim schmelzenden Kuß oder auf den Kissen der jungen Schönheit tummeln sich Teufelchen und Fratzen, die an die mystische Halbwelt eines Goya erinnern, den der Zeichner sehr verehrt. Warum er für diese Serie gerade den Kitsch aus vergangener Zeit gewählt habe? „Es macht einfach Spaß“, antwortet Andreas Noßmann und der Schalk sitzt ihm sichtlich im Nacken. Die Ausstellung „Über-Zeichnungen“ ist noch bis 3. Februar zu sehen. Gudrun Bergdolt